Tromsø, 1908
Der Sommer in Tromsø hatte seinen Höhepunkt erreicht, Mittsommer, und es trieb die Menschen aus den Häusern und Stuben hinaus auf die Wiesen, hinunter ans Meer. Den ganzen Tag waren Peter, Liv und Paul schon unterwegs. Am Morgen waren sie mit Rucksäcken aufgebrochen und entlang der Wiesen, Moore und Birkenwälder Richtung Süden gewandert, bis hinunter an die Spitze von Tromsøya. Paul hatte beständig an seiner Pfeife gepafft und ihnen so leidlich die Mücken vom Leib gehalten; Liv hatte die Haare zusammengebunden und trug zeitweise Peters Hut; sie pfiffen, Paul sang aus vollem Halse Seemannslieder voll zotiger Anspielungen, doch anstatt sich davon beeindrucken zu lassen, fiel Liv in die Refrains mit ein. Sie wollten hinüber nach Kvaløya, um von dort aus die Feuer zu betrachten.
Es war das Jahr 1908, und es hatte begonnen wie das Jahr davor geendet war: Peter ging bei seinem Vater, einem geachteten Zimmermann, in die Lehre, schon seit Wochen waren sie in der kleinen Kirche des Apostolischen Vikariats mit der Arbeit an neuen Bänken beschäftigt; Paul verdingte sich im Hafen bei den Fischern, fuhr frühmorgens hinaus, kehrte gegen Mittag zurück, vertrödelte dann die Zeit, meist traf Peter ihn später in einer der Hafenkneipen, wo er zwischen Seeleuten hockte und sich mit geröteten Wangen die Geschichten der Eisfahrer anhörte, dann fasste er Peter am Arm und flüsterte: Hörst du, was sie sagen, hörst du‘s? Liv unterdessen lernte das, was man von einer Frau erwartete: den Haushalt führen, Fisch zubereiten, Socken stopfen, sie war geschickt und fügte sich. Aber wenn sie mit den beiden Jungs zusammensaß, rauchte auch sie und sprach davon, wie sie eines Tages aufbrechen würde, sie werde Tromsø verlassen, und dann lachte Paul. Spukt dir immer noch dieser Humboldt durch den Kopf, versuchte er sie hochzunehmen. Liv aber gab keine Antwort darauf und sah ihn finster an.
1908 steckte Ernest Shackleton im Ross-Schelfeis der Antarktis fest, in der Nähe des Tunguska-Flusses im sibirischen Gouvernement Jenisseisk ereignete sich eine gewaltige Explosion, deren Druckwellen noch in Potsdam gemessen wurden, und die Freundschaft der drei verlor ihre kindliche Unbekümmertheit.
Die Kvaløya-Insel stieg vor ihnen in graubraunen Tönen zu einem abgeflachten Bergrücken auf. Der Himmel war ohne jede Wolke, und auf den zahlreichen Ausflugsschiffen zwischen Insel und Festland drängten sich Familien und kleine Reisegesellschaften, die entweder hinüber in die von Findlingen übersäten Wiesen drängten oder in die Stadt strömten, wo es am Abend ein Feuerwerk am Hafen geben sollte. Peter stand neben Liv an der Reling, und während sie hinaus aufs Wasser blickte, sah er sie an, wieder und wieder wanderte sein Blick von den anderen Ausflüglern zu ihr. Sie schien ihm verändert, aber er kam nicht darauf, was es war. Ihr Blick blieb fokussiert auf einen Punkt am Horizont. Bald wird sie sich entscheiden, dachte er, ohne genau zu wissen, was er damit meinte. Bald wird sie einen Namen sagen.
Auf Kvaløya ging ein munterer Wind, es roch nach Wiesenkräutern und warmer Asche. Sie folgten dem Küstenverlauf Richtung Süden durch Wiesen, kamen an Höfen vorbei, wo ihnen Hunde hinterherkläfften, kletterten über Stämme umgestürzter Birken und Ulmen. Gegen Mittag war Liv die erste, die sich die Schuhe auszog und den von Wellen umspülten Saum dicht am Wasser weiterging. Die beiden Jungen taten es ihr nach. Sie sangen wieder, dann lief eine Weile jeder schweigend für sich, Paul vorneweg, Liv und Peter in einigem Abstand.
„Wirst du Blumen pflücken und sie unter dein Kopfkissen legen?“, fragte er.
„Sollte ich?“
„Alle Mädchen tun es.“
„Damit ich von meinem Zukünftigen träume, meinst du das?“, sie sah ihn an. „Dabei hab ich doch schon euch.“
„Vielleicht träumst du dann ja auch von Alfred oder Gunnar.“
„Und wenn schon. Ist doch nur ein dummes Spiel.“ Sie zog die Schultern hoch. „Glaubst du an diesen Großmutter-Kram?“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Na, da bin ich beruhigt.“
Sie lächelte jetzt wieder, wie er es kannte: herausfordernd und so, als wüsste sie in jedem Moment, was er dachte.
„Los, ihr Schnecken“, rief Paul und winkte mit den Armen. „Wir sind da, kommt!“