Alte Fotografie aus der Artkis: Eisschollen und eine untergehende Sonne
Bild: The New York Public Library

Das Tessem-Knutsen-Mysterium

Zur historischen Vorlage für den Roman „Weiße Finsternis“ von Florian Wacker

Dikson liegt am Ende der Welt, weit im Norden Sibiriens im Mündungsgebiet des Jenissei, vergessen im Eis. Eine kleine Siedlung, die keine Träume weckt und keine Hoffnungen nährt und die dennoch für zwei Männer zu einem unerreichbaren Sehnsuchtsort wurde, zu einem Ort, von dem sie allenfalls ein schwaches Glimmen am Horizont wahrnahmen, bevor sie für immer verschwanden.

In Dikson, an der Schnittstelle von 73. Breiten- und 80. Längengrad gelegen, herrscht von Anfang Dezember bis Anfang Januar Dunkelheit, dann erreicht die Polarnacht ihren Höhepunkt und verschlingt die tristen Plattenbauten und Hafengebäude. Dabei war Dikson nicht immer der vergessene nördlichste Außenposten des eurasischen Kontinents. Einstmals hielten hier die stolzen russischen und norwegischen Segler, galt Dikson als Tor zur Nordostpassage.

So ankert hier auch Ende August 1918 die Maud, Roald Amundsens nagelneues Forschung- und Expeditionsschiff, mit dem sich der ehrgeizige Entdecker und Eroberer des Südpols durchs Packeis Richtung Nordpol treiben lassen will. Fünf Jahre hat er dafür eingeplant. Doch steht sein neuerliches Unternehmen unter keinem guten Stern. Als die Maud Anfang September Dikson Richtung Osten wieder verlässt und einige Tage später Kap Tscheljuskin erreicht, die nördlichste Festlandstelle der Erde, wird sie vom Eis eingeschlossen und muss sich für den nahenden Winter eine Leeküste suchen: Maudhavn, wie die Mannschaft die Bucht nennt, bleibt ein Jahr, bis September 1919, ihr Zuhause.

Tessem leidet seit ihrem Aufbruch aus Norwegen an starken Kopfschmerzen und einer fürchterlichen stimmunk

Die Stimmung an Bord schwankt. Amundsen ist von der frühen Unterbrechung wenig begeistert, vor allem zwischen ihm und dem jungen Emanuel Tønnesen kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Da scheint es Amundsen ganz gelegen zu kommen, dass Schiffszimmermann Peter Tessem nach einem Gespräch um seine Abmusterung bittet. Tessem leidet seit ihrem Aufbruch aus Norwegen an starken Kopfschmerzen und einer fürchterlichen stimmunk, wie Amundsen notiert. Mit Tessem soll der ungehorsame Tønnesen das Schiff verlassen – zwei Probleme weniger, die Amundsen Kopfzerbrechen bereiten. Doch im Laufe des Frühjahrs bereut Tønnesen seine Ungezogenheiten und bittet Amundsen, bleiben zu dürfen; und tatsächlich ändert der seine Meinung: Nun soll Paul Knutsen Peter Tessem nach Dikson begleiten. Ausschließlich als vorwand für seine heimschikkung erfand ich die notwendigkeit, posst nach hause schikken zu müssen. Er braucht einen begleiter, und Knutsen bot sich an, weil er Sverdrup auf seiner depottour begleitet hatte, schreibt Amundsen später an seinen Bruder Leon.

Ein letztes Abendessen

Es gibt ein letztes gemeinsamen Abendessen, dann verlassen die beiden Männer das Schiff und begeben sich mit einem Schlitten und fünf Hunden ins Eis. Mitte September 1919 kommt die Maud endlich frei und kann ihren Weg ostwärts fortsetzen. Etwa zur gleichen Zeit machen sich auch Peter Tessem und Paul Knutsen auf die rund 1000 Kilometer lange Reise entlang der vereisten Küste der Taimyrhalbinsel westwärts nach Dikson. Die beiden sind eiserfahren. Peter Tessem war Teilnehmer der Ziegler-Polar-Expedition, die zwischen 1903 und 1905 von Franz-Josef-Land aus versuchte, den Nordpol zu erreichen, kläglich scheiterte und gerettet werden musste. Paul Knutsen begleitete Arktisveteran Otto Sverdrup 1914 auf einer Rettungsexpedition zur Taimyrhalbinsel, also genau in die Region, in der die beiden jetzt unterwegs sind. Doch trotz all ihrer Erfahrung werden sie den russischen Außenposten nie erreichen.

Auch Amundsen hat weiterhin kein Glück. Nach einer Vergiftung durch Kohlenmonoxid während der wissenschaftlichen Arbeit und einem Angriff durch einen Eisbären, bei dem er nur knapp dem Tod entgeht, bleibt er mit der Maud nur einen Monat nach ihrer Befreiung erneut im Eis stecken. Diesmal ankern sie vor der Insel Ajon in der Ostsibirischen See. Immerhin gelingt es zwei Besatzungsmitgliedern, Wisting und Hanssen, sich in einem entbehrungsreichen Marsch nach Anadyr am Beringmeer durchzuschlagen und von dort ein Telegramm nach Norwegen abzusetzen. Darin teilt Amundsen den Standort der Maud mit und gibt bekannt, dass sich Tessem und Knutsen auf dem Heimweg befinden. Das Telegramm endet mit der Frage: Sind sie sicher zu Hause angekommen?

Alte Fotografie aus der Artkis: Hundeschlitten
Bild: The New York Public Library

Die Suche beginnt

Nein, zu diesem Zeitpunkt weißt niemand etwas über die beiden. Norwegens Nationalheld Fridtjof Nansen beruhigt, indem er die Vermutung äußert, dass es den beiden aufgrund der politischen Umwälzungen in Russland noch nicht gelungen sei, Kontakt mit der Heimat aufzunehmen. Aber die Zeit vergeht, das Jahr 1920 beginnt, es wird erneut Frühling, und noch immer gibt es kein Lebenszeichen von Tessem und Knutsen. Langsam setzt sich in Norwegen die Erkenntnis durch, dass es zu einem tragischen Zwischenfall gekommen sein muss.

Nun handelt man und betraut Otto Sverdrup mit der Zusammenstellung einer Rettungsmission. Für eine Pauschalsumme von 1800 Kronen mietet er Schiff und Mannschaft, und im August 1920 sticht die Heimen unter Kapitän Lars Jakobsen in See. Ohne nennenswerte Schwierigkeiten erreichen sie Dikson und nehmen sofort Kurs auf Kap Vilda. Dort wurden bei einer früheren Mission Sverdrups Versorgungsdepots angelegt, und man geht davon aus, dass Tessem und Knutsen diesen Ort angesteuert haben. Doch östlich von Dikson stoppt dichtes Eis ihr weiteres Vorankommen, und zu allem Überfluss zwingt ein Maschinenschaden die Mannschaft der Heimen, den Winter über in Dikson auszuharren. Die norwegische Regierung versucht, das Beste aus der Situation zu machen, und beauftragt Kapitän Jakobsen, eine Überlandexpedition zusammenzustellen. Jakobsen kabelt nach Norwegen: Telegramm erhalten. Werden hier den Winter über bleiben. Keine Nachrichten von Tessem und Knutsen. Werden versuchen, Rentiere und Hunde für eine Expedition zu mieten. Alles in Ordnung.

Aber wo soll Jakobsen, hier in Dikson am Ende der Welt, ohne Kontakte und Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten, Rentiere und Hunde herbekommen? Den russischen Behörden sind die Schwierigkeiten der Norweger nicht entgangen, und so beginnen im Hintergrund, langsam und schwerfällig zwar, aber immerhin, die bürokratischen Mühlen des Sowjetreiches zu mahlen. Zwischen dem kleinen Außenposten Dikson und Regierungsstellen in Omsk und Moskau glühen geradezu die Funkdrähte. Man spürt den für seine Arktiserfahrung bekannten Seemann und Forscher Nikifor Begitschew in Dudinka auf und gibt ihm den Auftrag, eine Suchmannschaft mit Rentieren und Schlitten zusammenzustellen, die Norweger in Dikson aufzusammeln und dann Richtung Osten nach Kap Vilda zu fahren. Wieder verstreicht Zeit. Begitschew verhandelt mit den ortsansässigen Nganasanen über Tiere und Material, und erst Anfang Mai 1921, fast eineinhalb Jahre nach dem Verschwinden der Norweger, setzt sich die Rettungskarawane in Bewegung.

Ein erstes Lebenszeichen

Einen Monat dauert der Weg nach Dikson, dort stoßen Kapitän Jakobsen und der junge Seemann und Übersetzer Alfred Karlsen zu Begitschews Gruppe. Man hetzt sofort ostwärts weiter. Der Weg die Küste hinauf ist eine einzige Tortur: Zahlreiche Rentiere kollabieren oder ertrinken in den Flüssen, abwechselnd schneit und regnet es. Trotzdem erreichen sie am 27. Juli Kap Vilda und finden Sverdrups Steinhügel. Verstreut liegen hier die Überreste der Vorratskisten, dann ein erstes Lebenszeichen: ein Brief von Tessem und Knutsen. Sie schreiben: Zwei Männer der Maud-Expedition, mit Hunden und Schlitten reisend, kamen hier am 10. November 1919 an. Wir fanden die eingelagerten Vorräte in sehr schlechtem Zustand vor, vor allem das Brot war vom Meerwasser verschimmelt und verdorben, was zeigt, wie die aufgewühlte See diese Stelle überspülte. Wir haben das Lager um 25 Yards landeinwärts verschoben und unseren Proviant für 20 Tage mit den hiesigen Vorräten aufgestockt. Wir sind in guter Verfassung und werden noch heute nach Port Dikson aufbrechen. 15. November 1919, Peter L. Tessem, Paul Knutsen. Ein Hoffnungsschimmer?

Wenige Tage später stößt Begitschew bei Kap Primetny auf die verkohlten Überreste eines Menschen

Nun soll es entlang der Küste zurück nach Dikson gehen, sie halten Augen und Ohren offen. Doch die Strapazen lassen nicht nach; ein Schlitten bricht ins Eis ein und kann nur mit Mühe gerettet werden, die Nahrungsmittel gehen langsam zur Neige. Anfang August stolpert Kapitän Jakobsen über einen halb verrotteten Schlitten, dessen Bauart eher auf Dilettanten denn auf erfahrene Eisfahrer wie Knutsen und Tessem schließen lässt. Wenige Tage später stößt Begitschew bei Kap Primetny auf die verkohlten Überreste eines Menschen, findet weiter: Nägel, Knöpfe, Patronenhülsen, ein Taschenbarometer. Sie sind sich sicher, dass hier einer der beiden Norweger verstarb und vom anderen verbrannt wurde. Jakobsen und Karlsen vergraben die Knochen und errichten ein Holzkreuz. Es bleiben bis auf Weiteres ihre einzigen nennenswerten Funde. An der Pjassina ertrinken erneut einige Rentiere, und ein aufziehender Schneesturm lässt alle Spuren der Vermissten unter einer dichten Schneedecke verschwinden. Begitschew entscheidet sich, die Suche abzubrechen. Nur mit Mühe und unter großen Entbehrungen entgehen die Suchenden selbst einer Katastrophe und erreichen Anfang Oktober 1921 mit Booten Dudinka am Jenissei.

Was hat die Expedition um Begitschew erreicht? Einer der Männer scheint tot gefunden, doch was ist mit dem anderen? Und wo sind die Schriftstücke und Briefe, die Tessem und Knutsen bei sich hatten? Längst in die Karasee geschwemmt und verloren? Man zuckt die Schultern, wendet sich anderen Dingen zu, hat man denn nicht alles getan? Es sind nicht die großen Namen, die verschollen sind, kein Amundsen, kein Nansen, es sind nur Peter Tessem und Paul Knutsen, ein einfacher Zimmermann und ein unbedeutender Seemann. Sollen deswegen weitere Menschen in Gefahr gebracht, noch mehr Holzkreuze errichten werden? Man arrangiert sich mit dem Mysterium. Und wie so oft ist es auch hier der Zufall, ein Krümelchen Glück, der weitere Dinge ans Licht bringt.

Alte Fotografie aus der Artkis: Eisberge, am Horizont die Masten eines Schiffes
Bild: The New York Public Library

Die Papiere der Maud

1922 erhält der Geologe Nikolai Nikolajewitsch Urwanzew den Auftrag, die Schiffbarkeit der Pjassina und die dortigen Nickelvorkommen zu erforschen. Im Mai stößt ein alter Bekannter zu der kleinen Gruppe: Nikifor Begitschew. Er will ebenfalls die Pjassina erkunden, nur unter etwas anderen Vorzeichen als Urwanzew: Ihn interessiert das Jagdpotential der Gegend. Urwanzew freut sich dennoch über den erfahrenen Begleiter. Im Juni 1921 brechen sie auf und erreichen knapp sechs Wochen später die Flussmündung. Von dort aus wollen sie westwärts entlang der Küste bis Dikson fahren.

Und plötzlich beginnt ein Licht zu leuchten dort hinten am Horizont, nicht weit von Dikson

Immer wieder geht Urwanzew an Land und untersucht das Gestein auf Gold und Quarz, so auch am 9. August an der Mündung der Zeledeyewa. Doch was er für Gestein gehalten hat, entpuppt sich bald als über die Felsen verstreute Papiere. Und zwischen Treibholz finden sie zwei wasserfest verpackte Pakete, das eine ist mit Mr. Leon Amundsen, Kristiania. Post, manuskripte, fotos, karten, skizzen beschriftet. Begitschew ist sich sofort der Tragweite des Fundes bewusst: Es handelt sich um Teile der Postsendung von der Maud. Eine Suche in der Umgebung fördert Weiteres zutage: eine verschimmelte Lederbörse mit Amundsens Visitenkarten, einen Bootskompass, Überreste von Jaeger-Unterwäsche, ein verrostetes Fernglas, eine verfaulte Ledertasche, Knöpfe, Fäden und Schnallen. Und plötzlich beginnt ein Licht zu leuchten dort hinten am Horizont, nicht weit von Dikson.

Am 12. August stoßen sie an der Mündung der Uboynaya in einer halb verfallenen Hütte auf zwei Paar Skier der norwegischen Firma Hagen & Co., in tadellosem Zustand. Der Schein des Lichts wird größer, aber mit ihm auch die Fragen: Warum wurde die Postsendung zurückgelassen? Wenn einer der Vermissten vorher starb, warum trug der andere zwei Paar Skier bis hierher und ließ sie dann zurück? Was um alles in der Welt war Tessem und Knutsen hier draußen zugestoßen?

Der Tote

Als die Gruppe am 14. August Dikson erreicht, teilt man ihnen mit, dass das erwartete Schiff nicht kommen werde und sie sich aus eigener Kraft zurück in den Süden durchlagen müssten. Urwanzew schickt Begitschew auf die Jagd und beginnt zu packen, doch nach nicht einmal einer Stunde kehrt Begitschew zurück: Er habe ein Skelett gefunden, bei dem es sich allem Anschein nach um Peter Tessem handele. Der Tote liegt quasi in Sichtweite Diksons, etwa drei Kilometer von der Siedlung entfernt nah am Wasser.

Neben den Resten von Kleidung, eines gebrochenen Skistocks und eines verbogenen Jagdmessers finden sich zwei bemerkenswerte Dinge: eine metallene Taschenuhr, in deren Deckel Ziegler Polar Expedition. An Peter L. Tessem, Schiffszimmermann … eingraviert ist, und, auf einen Strick um die Taille des Toten gefädelt, ein Ring mit den Inschrift Din Pauline. Urwanzew folgert, dass Tessem auf den glatten Steinen ausgerutscht sein muss, das Bewusstsein verlor und erfror. Man errichtet erneut ein Holzkreuz, das Rätsel scheint, trotz ungeklärter Fragen, gelöst. Das Licht der Aufmerksamkeit erlischt.

Ein Mysterium

Doch in den folgenden Jahren flammt es immer mal wieder auf. Die Knochen, die Begitschew auf Kap Primetny fand, stellen sich nach genauerer Untersuchung als Überreste von Rentieren heraus. Und der Tote von Dikson, ist es wirklich Peter Tessem? Oder doch Paul Knutsen, der die Gegenstände seines wo auch immer verstorbenen Kameraden an sich genommen hat? Und warum rutschte er unglücklich aus, so kurz vor dem Ziel, als er die Lichter Diksons womöglich schon schwach in der Dunkelheit leuchten sah? Machte er einen Luftsprung vor Freude? Verfiel er in panische Hast? Oder sank er auf die Knie, dankbar, schluchzend, ein kurzes Gebet sprechend, dass er nun endlich am Ziel war. Bis heute ist das Rätsel um die beiden Männer nicht endgültig geklärt.

Und Roald Amundsen? Der dümpelt in den Jahren 1920/21 weiter vor der Sibirischen Küste auf der Maud und kehrt erst im Juli 1921 nach Seattle in die Zivilisation zurück. Dort holt ihn auch das Tessem-Knutsen-Mysterium schnell wieder ein. Seinem Bruder Leon schreibt Amundsen seine Sicht der Dinge, die er mit dem treuen Begleiter Wisting teilt: Tessem war vereinzelte male äußerst schwarzer stimmunk. Dann ertrug er absolut nichts. Knudsen war zwar äußerst geduldig, aber wenn er einmal wütend wurde, begann er zu toben. Jetzt meint W., es hat eine tragödie gegeben. Und das erscheint mir im moment als die einzige lösung. Darüber kein wort zu irgendwem!“

In Dikson erinnert heute ein massives steinernes Denkmal an Peter Tessem: TESSEM, norwegischer Seemann, Mitglied der MS Maud Expedition, gestorben 1920 steht darauf. Von Paul Knutsen dagegen fehlt jede Spur. Oder ist es doch umgekehrt?


Buchcover Weiße Finsternis